Jean Eschenoz - 14 - Zwischen Schützengraben und Heimatfront
Das Incipit als Motor des Anfangs
Ein heißer Samstag im August. Im
Dept. Vandée fährt ein Mann mit seinem Fahrrad durch die Landschaft. Auf einer
Hügelkuppe angekommen, lässt der Buchhalter den Blick schweifen: Marktflecken,
Felder, ab und an ein Automobil. Die idyllische Ruhe wird vom Glockenschlag der
Sturmglocke durchbrochen. Als der beinahe unnatürliche Augustwind stärker wird,
treibt es auch Anthime zurück in die Stadt, wo er von einer lachenden
Menschenmenge in Empfang genommen wird. Das Glockengeläut als Signal der
Mobilmachung hat an diesem Samstag alle auf die Straßen getrieben, sogar
Charles, dem Anthime lieber aus dem Weg gegangen wäre. Unvermeidbar war das
Ganze, aber in zwei Wochen seien sie alle wieder zu Hause.
So oder so ähnlich könnte man das
erste Kapitel von Jean Echenoz‘ 14
zusammenfassen. Inspiriert von einem Carnet
de guerre aus dem Nachlass seiner belle-famille, stürzte sich Echenoz
während der Vorbereitung zunächst in die Faktensuche in historischen Werken
bevor er sich an der Literatur der Zeit (Barbusse, Remarque, Jünger) orientierte
um sich das Thema für seinen neuen Roman 14
zu eigen zu machen. Dabei wendet sich der Autor in seiner Erzählweise sich
bewusst von den theorielastigen nouveau-Romanen der 60er und 70er Jahre ab und
baut seinen vielschichtig komplexen Roman über die „cinq hommes partis à la
guerre“ und die eine Frau, die an der Heimatfront zurückgeblieben ist, auf
einer relativ banalen Geschichte zweier Brüder auf, die in dieselbe Frau
verliebt sind. Mit diesem „retour au récit“ stellt sich dem aufmerksamen Leser
allerdings bereits hier die Frage nach dem Genre: Macht diese Dreiecksbeziehung
14 zu einer romantischen
Liebesgeschichte mit dem guten Ausgang einer Komödie, zu einem Historienroman oder
vielleicht sogar zu einer Neuerzählung der ältesten aller
Menschheitsgeschichten über die Rivalität zweier Brüder die mit Anthime und
Charles mehr als nur ihre Anfangsbuchstaben teilen (Abel – Cain).
Wovon wird hier eigentlich
erzählt?
Ähnlich wie in Echenoz früheren
Werken verfügt auch der 2012 erschienene Roman über relativ klar umrissenen
Handlungsträger. Auch die Schauplätze der Handlung (Vandée – die Front – und
wieder Vandée) werden von einem „souverän steuernden auktorialen Erzähler“ (Überhoff)
realitätsgetreu konstruiert. Allerdings sollte festgehalten werden, kehrt
Echenoz auch hier nicht zur traditionell „realistischen Erzählweise“ von
beispielsweise Balzac zurück, vielmehr setzt er sich in intertextuellen
Referenzen damit auseinander, wobei er seine Leser aber gleichsam auffordert
bestimmte Leerstellen auszufüllen und den textlichen Spuren (ähnlich wie bei Italo
Calvinos Wenn ein Reisender in einer
Winternacht) zu folgen.
Und um euch nun einen ersten
Eindruck von der vielseitig intertextuellen und phantasievoll subtilen
Konstruktion aus virtuoser Sprachführung und verspielter narrativer und
stilistischer Techniken zu geben, werfen wir zunächst einen genaueren Blick auf
das Incipit als Motor des Anfangs und das erste Kapitel. Denn anders als in
Geschichtsbüchern geht es Echenoz tatsächlich weder um präzise historisch
korrekte Beschreibungen noch um Ursachenfindung und Kausalzusammenhänge oder
gar die Schuldfrage. Das wäre tatsächlich ein „volume top massif“ (Echenoz, 7).
Im Gegenteil, eine scheinbar banale Geschichte über Liebe und Bruderrivalitäten
bildet einen wie ein Kritiker es nannte einen „universal way of getting into
the time and the complexities of the story“. Denn einerseits handelt es sich
hier zwar um eine „miniature de la grande boucherie“ (Lançon[1])
die „a l’intérieur de la guerre à hauteur d’homme“ die „sensibilité d’une époque“
(Lançon) wiederzufinden sucht, aber andererseits ist das 124 Seiten dünne Werk
auch eine poetologische Reflexion über das Geschichtenerzählen und das Erzählen
von Geschichte. Und das zeigt sich bereits im Incipit am ersten Satz: „Comme le
temps s’y prêtait à merveille […]“ (Echenoz, 7) - zwar setzt der Erzähler mit
„comme“ (da) zu einer Erklärung an, diese wird aber von der Bedeutungsambivalenz
des Substantives „temps“ relativiert und zu Nichte gemacht. Reden wir hier also
über das Wetter oder die Zeit?
Das Bild wird erst klarer sobald
der Fokus auf einem der Hauptcharaktere, Anthime, gelegt wird. Fern ab von
jeder Zivilisation steht er auf einem Hügel und verschafft sich und dem Leser
zunächst einen Überblick über das ländlich geprägte Vandée im August 1914. So
präsentieren sich dem Leser bzw. prophetischen Fährtensucher, ähnlich wie bei
Barbusse, bestimmte Naturphänomene als Zeichen, die nur er als Vorboten
drohenden Unheils deuten kann, aber anders als in Le Feu wird die Natur d.h. hier der unnatürliche Augustwind, der
die schöne Landschaft „momentanément troublé“(Echenoz, 9) zurücklässt,
gleichsam zu einem ersten bildlichen Marker für Intertextualität. Durch einen
Mix aus Darstellungstechniken der Filmkunst, Musik bzw. Klangwelten und
verschiedenen inter- und metatextuellen Anspielungen ist Echenoz‘ Stil auch
gekennzeichnet von einem bisweilen stark ironischen Unterton in dem sein überwiegend
auktorialer Erzähler das Geschehen, die Fülle von Ereignissen und Orten in
minutiös kleinen Details wiedergibt. Dabei wird Anthime als Buchhalter mit
Siegelring (dem Symbol von Macht) als Autorität eingeführt, der von Berufswegen
bereits auf Details und Inventarlisten achtet. In bewusster Imitation von
Genevoix’s Ceux de 14, finden sich auch hier Aufzählungen oder Listen: von
seinen Vorhaben „ses projets“ (Echenoz, 7) oder von den Details die Anthime in
der „paysage autour de lui“ (Echenoz, 9) ausmachen kann. Allerdings wird seine
Autorität schnell zunächst vom Erzähler und später auch von Charles
untergraben, denn Anthime trägt den Siegelring scheinbar nicht nur an der
falschen Hand, sondern glaubt auch an die magnetischen Heilkräfte des Rings,
die seiner schmerzenden Rechten Linderung verschaffen sollen. Auch das könnte
vom prophetischen Fährtensucher als Vorzeichen für die Phantomschmerzen seiner
„main coupée“ (Cendras) interpretiert werden. Des Weiteren erfahren wir, dass
der Buchhalter mit seinen begrenzen praktischen Angelkenntnissen seinen
Kameraden bei einem Ausflug ans Meer in der Vergangenheit nicht besonders
nützlich war, aber wie der Erzähler uns mitteilt konnte er zumindest eine
Inventarliste des Fangs erstellen.
Durch diesen und andere Eingriffe
bzw. Kommentare des auktorialen Erzählers wird der Blick des Lesers bewusst geweitet.
Vor allem in der Auseinandersetzung mit sprachlichen Bildern zeichnet Echenoz
erneuet das Landschaftspanorama nach und bezieht durch eine Art mise en abyme,
die wie bei einer Kamera künstlich einen zoom-out Effekt erzeugt, den Leser in
seinen poetologischen Diskurs mit ein - „nous étions au premier jour“ (Echenoz,
9). Was sich dem Leser nun erschließt, ist eine zeitliche Situierung (1.
August) und ein noch genauerer Eindruck von einer überwiegend ländlichen geprägten
relativ spärlich besiedelten Gegend, wo der Siegeszug des Automobils noch nicht
eingehalten hat.
Es ist also vier Uhr nachmittags an
diesem 1. August und in das stille Idyll von Vandée bricht die Kakophonie eines
erneuten Anfangs. Überall um Anthime herum setzten die Glocken ein und
verwandeln die „plaisant paysage“ (Echenoz, 9) zum „espèce sonore“ (Echenoz, 9)
in dem „un mouvement venait de se mettre en marche“ (Echenoz, 10). An diesem
Anfang steht also der Ton nicht das Wort, der alles in Gang setzt und weitere
Bilder evoziert, die sprachlich subtil bereits die Allgewalt des Krieges
vorgreifen. Das regemäßige Bim-Bam der Glocken gibt also nicht nur das
Marschtempo, den Takt, vor sondern setzt mit dem „clignotement binaire
rappelant le clapet automatique de certains appareils à l’usine“ (Echenoz, 10)
auch die Kriegsmaschinerie und die Kriegsproduktion in Gang. Der
Synästhesieeffekt (auditive Zeichen werden mit visuellen assoziiert bzw.
übersetzt) deutet ebenso bereits an, dass Anthimes ganze Welt und seine
Wahrnehmung der Welt vom Krieg betroffen sein wird.
Als unnatürliche Wind und das
Glockengeläut weiter anschwellen, eine Klangkulisse bilden, ein „désordre grave,
menaçant, lourd“ (Echenoz, 10), kann Anthime zwar instinktiv besonders die Sturmglocke
als ungewöhnliches Phänomen herausfiltern, es aber ob seiner Jugend nicht
deuten. „Aures habet, et non audiet“ – er hat Ohren hört aber nicht, lautet dann
der neuerliche Einwurf des Erzählers, der gleichsam wiederum auf Victor Hugos 1793 Bezug nimmt. Die Sturmglocke wird zur
Totenglocke, zum Zeichen der Mobilmachung und für den „état présent du monde“(Echenoz,
11). Aber sowohl der Klang des Todes also auch Hugos Warnung über die Schrecken
des Terreur, das Blutvergießen und die Verbrechen auf beiden Seiten der
ideologischen Trennlinie bleiben ungehört bzw. ungelesen am Straßenrand zurück.
Während hingegen das „nous“ den Leser sowohl in die Handlung als auch in den
Erzählprozess einbindet, ihn auffordert de „vaincre l’espèce d’embarras intimidé“
(Echenoz, 13) der vergangen 100 Jahre und den Leser also Teil der literarischen
Auseinandersetzung und Teil dieses poetologischen Versuchs die erste große
Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu verstehen oder aufzuarbeiten macht, womit
er gleichsam auch die Bürde der Erinnerung schultert und Verantwortung dafür
übernimmt diese auch für zukünftige Generationen lebendig zu halten, was durch die
vielen Detailbeschreibungen die an Inventarlisten oder manchmal auch tableaux
vivants erinnern zusätzlich noch verstärkt wird.
Bei Anthimes Rückkehr in die
Zivilisation wird selbst das stümmeln der Sturmglocke vom Lärm der frenetischen
Menschenmenge, von einer „foule souriante“ (Echenoz, 12), von Hymnen und
Fanfaren, von patriotischen Rufen übertönt. Und am Anfang ist also auch der
Lärm und das Chaos in das Anthime hineingezogen wird, während der lesende
Fährtensucher mittlerweile wieder hinter Anthime auf Distanz zum Geschehen
tritt und am Rande der feiernden Menschenmassen auf dem Place Royale das
beinahe surreal anmutende Gespräch über die magnetischen Heilkräfte des
Siegelrings zwischen Anthime und Charles beobachtet.
Und Charles? Wer ist Charles?
Denn auch der Hobbyfotograph
steht am Ende des 1. Kapitels scheinbar unbeteiligt mit seiner Kamera an einer
Straßenecke, beobachtet das Geschehen, knipst ab und an eine Gruppe von Menschen
mit ihren Spruchbändern, hält sie für die Nachwelt fest. Charles, von dem wir
erst nach 70 Seiten erfahren, dass es sich bei ihm um Anthimes Bruder handelt,
ist bereits auf Seite 57 bei einem Flugzeugabsturz gestorben. Allerdings ist
das auch nicht wirklich sein Ende, die Erinnerung an ihn wird „au cours de la
bataille de Mons“ (Echenoz, 124) mit Charles jun. wiedergeboren. Charles steht
also am Ende eines Anfangs und wird somit scheinbar zum Symbol für eine
lebendig gehaltene Erinnerung und vielleicht sogar für Echenoz‘ Text selbst. Am
Ende hatte Charles also nicht Recht behalten. Die „l’affaire de quinze jours“
(Echenoz, 14) war nicht nach 2 Wochen vorbei, wir waren Weihnachten nicht
wieder zu Hause, das Ganze ist ein Jahrhundert später nicht einmal 2014 vorbei.
[1] http://www.liberation.fr/livres/2012/10/03/echenoz-tranchees-dans-le-vif-dans-14-une-miniature-de-la-grande-boucherie_850663
Reviews:
Deutschlandfunk: http://www.deutschlandfunk.de/buch-der-woche-kaleidoskop-des-ersten-weltkrieges.700.de.html?dram:article_id=294029
Interview mit Jean Eschenoz:
Quellen:
Frings,
Susanna: „A la recherche de l‘homme perdu“. Literarische Ethik in den
Romanen von Jean Echenoz, Jean-Philippe Toussaint und
Michel Houllebecq.Uni-verlag Winter GmbH, Heidelberg 2014.
Hanimann, Joseph: So banal fangen kriege
an. 25. Februar 2014.
Rüdenauer, Ulrich : Kammermusik
des Krieges. 26.
Februar 2014. http://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-02/jean-echenoz-14
Schröder,
Christoph: Der Krieg stört. 25. April 2014.
http://www.fr-online.de/der-erste-weltkrieg/jean-echenoz--14-der-krieg-stoert,1477454,26949828.html
Waldinger,
Ingeborg: Helden wider Willen. 5. April 2014.
Youtube Video:
http://www.youtube.com/watch?v=bbvcBa_J-Uo
[1] http://www.liberation.fr/livres/2012/10/03/echenoz-tranchees-dans-le-vif-dans-14-une-miniature-de-la-grande-boucherie_850663
Reviews:
Deutschlandfunk: http://www.deutschlandfunk.de/buch-der-woche-kaleidoskop-des-ersten-weltkrieges.700.de.html?dram:article_id=294029
Interview mit Jean Eschenoz:
Quellen:
Frings,
Susanna: „A la recherche de l‘homme perdu“. Literarische Ethik in den
Romanen von Jean Echenoz, Jean-Philippe Toussaint und
Michel Houllebecq.Uni-verlag Winter GmbH, Heidelberg 2014.
Hanimann, Joseph: So banal fangen kriege
an. 25. Februar 2014.
Rüdenauer, Ulrich : Kammermusik
des Krieges. 26.
Februar 2014. http://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-02/jean-echenoz-14
Schröder,
Christoph: Der Krieg stört. 25. April 2014.
http://www.fr-online.de/der-erste-weltkrieg/jean-echenoz--14-der-krieg-stoert,1477454,26949828.html
Waldinger,
Ingeborg: Helden wider Willen. 5. April 2014.
Youtube Video:
http://www.youtube.com/watch?v=bbvcBa_J-Uo
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