Kurzgeschichte - Auf der Seite des Lebens den Tod

Im Alter von 25 Jahren war sie bereits einmal gestorben. Für wenige Sekunden nur, hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen, kein frischer Sauerstoff wurde durch den Körper gepumpt.
Zuerst war alles schwarz gewesen. Nichts, alles schien leer ein mitternachtsschwarzer
Abgrund bis ihre fünf Sinne langsam wieder erwachten und mit ihrem Bewusstsein in
Verbindung traten. Desinfektionsmittel war das erste, war ihr Gehirn registrierte und noch
etwas anderes, sie konnte es nicht genau benennen. Blumen. Langsam, schwerfällig öffnete
sie ihre Augen. Sie musste blinken um den Schleier von ihren Augen zu reißen bis sie wieder
klar sehen konnte. Blaue Hyazinthen – sie mochte blaue Hyazinthen - standen neben weißen
Rosen und Freesien, die sich zu den bunten Genesungskarten tummelten. Jemand hatte
Bücher bereitgelegt. Eine Ausgabe der „Sonnets form the Portuguese“ lag beim 22.
aufgeschlagen, geduldig wartend, bis der Vorleser zu seiner Aufgabe zurückkehren würde.
Ihr Mund war trocken und ihr Kopf schmerzte. An das Bett mit den sterilen weißen Lacken
war ein mit giftgrünem Stoff bespannter Stuhl gerückt worden über dessen Lehne ein beiger
Trenchcoat hing. Dunklere Flecken waren auf dem hellen Stoff sichtbar, klein und kreisrund
hoben sie sich ab. Von ihrem Platz eingehüllt in Lacken und Kissen, konnte sie den leichten
Geruch von Regen, der an dem Stoff noch haftete, wahrnehmen. Sie fröstelte. In dem
trostlosen Reinweiß des Zimmers sehnte sie sich nach etwas Lebendigem. In ihrem Kopf war
es seltsam ruhig. Der einzige Laut, der die Stille durchdrang war das leise weit entfernte
ticken einer Uhr. Ihr Blick schweifte, an der Wand, steril und weiß, hing ein Gemälde,
Kleckse, kleine Explosionen in kobaltblau und rubinrot, schwarze Streifen und grasgrüne
Kreise zierten die Leinwand. Den Kopf leicht zur Seite wendend sah sie ein ähnliches
Gemälde, die gleichen Stiche, Kleckse und Kreise. Zusammen mit dem Geruch nach
Desinfektionsmittel, der großen Kunst und den Blumen ... Sie war in einem Krankenhaus,
Schoss der erste bewusste Gedanke durch ihren Kop und beendete somit das Schweigen ihrer
Gedanken. Was war passiert? Wie war sie hier gelandet? Warum konnte sie sich nicht
erinnern?
Dann war er plötzlich da. Er stand am Fenster, am anderen Ende des Raumes, den Rücken zu
ihr gewandt. Seine Schultern waren leicht gebeugt , seine Hände verschwanden in den
Taschen der schwarzen Stoffhose. Das leicht verknitterte schwarze Seidenhemd spannte sich
über seine breiten Schultern. Er war groß und dunkel. Sie musste wohl ein Geräusch gemacht
haben, denn plötzlich drehte er sich um und starrte direkt in ihre Augen.
„Es wird auch langsam Zeit, dass du zu dir kommst“, seine Stimme klang sanft, zurückhaltend
mit einer kleinen Spur von gespieltem Vorwurf.
„Zu mir?“; es war eigentlich keine Frage, sie wiederholte nur mit nachdenklichem Ton, weit
weg mit ihren Gedanken seine letzten Worte. Als er näher ans Bett trat, konnte sie seine
feinen Gesichtszüge, die dunklen beinahe schwarzen Augen besser erkennen.
„Zurück ins Land der Lebenden. Für eine Weile hast du den Ärzten ziemliche Sorgen
bereitet.“ Er war gutaussehend, musste sie feststellen, groß und dunkel. Während seine
Stimme weich und erleichtert in ihren Ohren klang, schien seine Körpersprache doch andere
Signale zu geben, er war angespannt, fast etwas distanziert und kalt. Sie sei beinahe 48
Stunden ohne Bewusstsein gewesen, informierte er sie. Sie erinnerte sich nicht was passiert
war. Ihre Versuche sich aufzurichten wurden von dem gutaussehenden Fremden brüsk
behindert: „Du solltest dich noch nicht bewegen, bevor du nicht mit einem Arzt gesprochen
hast“, sagte er und drückte ihren müden Körper zurück in die weicht Matratze.
Die Tür öffnete sich und eine Schwester unterbrach die beiden. Es gehe ihr gut, etwas
desorientiert, antwortete sie auf die Frage nach ihrem Befinden. Sie fuhr fort weitere Fragen,
Standardprozedur, zu stellen: Welches Jahr haben wir? Wer ist Präsident? Ohne Probleme
fand sie die Antworten in ihrem Gehirn vergraben.
„Gut, noch eine letzte Frage, können Sie mir auch sagen wie Sie heißen“, die Schwester
lächelte noch immer.
„Sicher, mein Name ist ...“ Die Schwester wartete und beobachtete wie ihre Patientin mit der
Antwort auf die leichteste der Fragen Probleme hatte.
„Sophia O’Conner“, Antwortete die sanfte Stimme vom anderen Ende des Raumes. Sie
blickte auf dankbar, verwirt und verängstigt. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen,
bleich lehnte sie sich zurück in die Kissen und starrte ins Leere.
„Ich ...“, sie stockte , „erinnere mich. Sophia geboren am 11. November 1985.“ Erleichterung
färbte ihre Stimme. Während die Schwester einen Arzt bemühte, trat der Besucher in ihr
Blickfeld.
„Verzeihung, aber Sie scheinen mich zu kennen. Sind wir Freunde?“, es war eine Frage
gestellt in Unschuld, Unwissenheit. Den Kopf schüttelnd verneinte er, sie seien keine
Freunde: „Du bist meine Frau.“ Ihr Kopf schoss hoch. Sie suchte seine Augen. Frau. Das
Gesicht des sogenannten Ehemanns hatte sich zu einer beinahe ärgerlichen Grimasse
verzogen. Sophias Augen wanderten zu seinen Händen. Den linken Ringfinger zierte ein
einfaches Platinband.
Die Tage im Krankenhaus verschwammen, Langeweile, die nur von ihrem Ehemann und den
Schwestern unterbrochen wurde, Frustration, über die eigene Schwäche und manchmal
Irritation über einen Satz oder ein Wort, dass ihr Ehemann fallen ließ. Sie hatte das ungute
Gefühl in ihrer Magengegend nicht abschütteln können, in manchen Nächten hatte sie
Albträume, die sie tagsüber nur bruchstückhaft rekonstruieren konnte. Nicht einmal dann, als
die Sonnenstrahlen, zaghaft durch die weißen Leinengardienen von einem neuen Tag
kündeten, fühlte sie sich wohl in ihrer Haut. Sie wusste nicht wer sie war, wohin sie gehörte,
sie erkannte nicht einmal ihren eigenen Ehemann, der seit vier Jahren jeden Tag an ihrer Seite
war. Man hatte ihr garantiert, sie würde an diesem Tag entlassen werden, sie sei stabil genug
um nach Hause zu gehen. In ein zu Hause an das sie sich nicht mehr erinnerte, in einer Stadt,
die sie nicht kannte, zurück zu ihren Freunden, die Blumen und Karten geschickt hatten. Aber
wo sonst sollte sie hingehen. Seit dem Moment an dem man ihr sagte, dass ihre Vater vor
einiger Zeit verschieden war und sie ihre Mutter nicht einmal kannte, hatte sich das Gefühl
des Unwohlseins noch verstärkt, sie fühlte eine Leere. Beinahe so als hätte sie beide
Elternteile noch einmal verloren.
Mit den unterzeichneten Entlassungspapieren in einer neuen Designerhandtasche wartete sie
nun in einem marineblauen Kleid auf ihren Ehemann, noch immer hallte das Wort nach. Erst
tags zuvor war er mit einer Wagenladung an Einkaufstaschen an ihrem Bett erschienen. Sie
hatte versucht zu protestieren als sie die Preisschilder sah, mit einer recht beiläufigen
Handbewegung hatte er abgewinkte und meinte Geld sei das Letzte worum sie sich nun
sorgen müsse. Liam hatte sie täglich besucht, ihr Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählt
nun stand er in der Tür gegen den Rahmen gelehnt und musterte seine Frau von Kopf bis Fuß.
Die Ärzte hatten ihnen versichert, es würden keine Narben zurückbleiben, trotzdem zierten
ihre rechte Gesichtshälfte noch immer hässliche grünlich blaue Stellen.
„A penny for your thoughts“, diesmal war sein Lächeln echt, stellte sie fest. Liam hatte
während der Gespräche immer distanziert gewirkt, sein Lächeln aufgesetzt, als zeige er ihr
nur eine Maske.
„Nichts wirklich. Ich versuche alles irgendwie in meinem Kopf zu ordnen, scheitere aber
schrecklich. Liam warum bin ich allein in Europa?“, die Frage hatte ihr schon seit dem ersten
Tag auf der Zuge gebrannt.
„Du sagtest du brauchtest Zeit, Ferien von allem. Du hast Freunde hier aus Studentenzeiten“;
ein anderer Tonfall war in seine Stimme gerutscht, der Unterschied war kaum merklich, doch
trotzdem da. „Wir sollten gehen das Flugzeug wartet nicht.“
Ein Taxi brachte sie brachte beide zum Flughafen und ein Flugzeug über den Atlantik und
acht Stunden 15 Minuten später, watete ein Chauffeur am JFK Airport um sie die 15,6 Meilen
in ihr Domizil zu kutschieren. Sie wurde nervös als das Auto in eine Straße mit teuer
aussehenden Geschäften und Adressen bog und nur wenig später zum stehen kam. Ihr
Ehemann schien von dem Darstellung von Reichtum wenig beeindruckt, beinahe gelangweilt
saß er, den Kopf in den Seiten der Times begraben, neben ihr. Erst als der Fahrer die Tür
öffnete, faltete er die Tageszeitung feinsäuberlich zusammen, stieg aus und half seiner
staunenden Weggefährtin aus dem glänzenden schwarzen Auto. Sophia musste sich daran
erinnern, dass es für ihn nichts Neues war, er saß das wahrscheinlich jeden Tag auf dem Weg
zur und von der Arbeit. Krampfhaft hielt sie an ihrer Tasche fest als Liam sie über den weißen
Marmorfußboden der Eingangshalle zu den Aufzügen geleitete. Penthouse.
„Willkommen zu Hause“, flüsterte er, seine Hände auf ihre Schultern legend. „Du bist
sicherlich müde von der Reise. Und du hast es sicherlich komfortabler in deinem eigenen
Zimmer.“
„Mein Zimmer“, wiederholte sie befangen.
„Nun wirklich unser Schlafzimmer. Ich hielt es aber unter gegebenen Umständen für
angebrachter, wenn ich im Gästezimmer bliebe“, ein beinah süffisantes Grinsen erhellte sein
Gesicht, so als wolle er widersprochen werden.
Das Zimmer machte einen warmen, gemütlichen Eindruck. Es war geschmackvoll
eingerichtet musste sie feststellen. Gleich neben der dunkel gebeizten Doppeltür stand eine
Chaisselongue, deren hellgrüne Polsterung perfekt zu den etwas dunkleren Bodenvasen
rechts und links von dem Sitzmöbel passten. Ein üppiger Strauß aus langstieligen weißen
Rosen, Callalilien, Hortensien und Freesien verströmten einen betörenden Geruch. An die
nördliche Wand des Raumes war ein Himmelbett gerückt worden, dessen smaragdgrüner
Spitzenbaldachin sich ebenfalls Ton in Ton in das Gesamtkonzept einfügte. Eine Sitzgruppe
war neben die Fenster positioniert zwischen denen deckenhohe Bücherregale die Wände
bedeckten. Auf dem Tisch wartete in einer hauchzarten chinesischen Teekanne heißer Tee mit
toskanischem Mandelgebäck.
Liam ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Es war ein Desaster. Gegen die schwere
Holztür gelehnt versuchte er genug Kraft aufzubringen, sich auch nur ein paar Meter zur
Treppe und dann nach unten in die Sicherheit der Bibliothek zu begeben. Wie hatte es nur so
weit kommen können? Hallte die Frage durch seinen Kopf, er hatte mit der Vergangenheit
abgeschlossen, sie war aus seinem Leben verschwunden und jetzt. Langsam trottete er
schweren Schrittes die Stufen hinunter und schloss sich in Mitten seiner Bücher ein. Er
durchmaß den Raum mit großen Schritten und machte sich an einem in der Wand
eingelassenen Schrank zu schaffen. Erschöpft mit einem Glas Scotch sank er in die weichen
Tiefen eines großen schwarzen Lehnsessels. Einen großen Schluck nehmend fühlte er wie das
kühle Getränk über seine Geschmacksknospen spülte und sich langsam brennend den Weg
durch seine Kehle bahnte. Schnell setzte seine Wirkung ein und erinnerte ihn daran, dass er
noch immer lebte. Auch wenn er sich manchmal dessen nicht ganz sicher war. Er wusste nicht
ob es Bitterkeit oder Selbstmitleid war, die ihn zu den Kristallglasflaschen mit der
bernsteinfarbenen Flüssigkeit geführt haben. Liam war überzeugt gewesen, sobald seine Frau
durch die Einganghalle schritt, würden sich wie durch Zauberhand die Tore öffnen und ihre
Vergangenheit würde sintflutartig zurückkehren. Allerdings hatte er den ängstlichen
Ausdruck in ihren Augen, die Verwirrung und die Frustration gesehen und er wusste, dass sie
noch immer nicht die leiseste Ahnung hatte, was zwischen ihnen vorgefallen war. Ein
weiterer großer Schluck leerte das Glas. Nun musste er sich nur die Frage stellen, wie viel und
was überhaupt er ihr sagen konnte. Er hatte sich bereits im Krankenhaus entschieden. Es war
eine Chance für sie beide.
Er hatte ihr verraten, dass er morgens ohne seinen Kaffee kein Mensch war, so verwunderte es
sie nicht, dass der köstlicher Kaffeegeruch sie leicht an der Nase kitzelte. Ihr Ehemann, noch
hörte sich das fremd in ihren Ohren an. Sophie hatte ihre eigenen allmorgendlichen Rituale.
Zumindest glaubte sie das. Sie war in einem fremden Raum aufgewacht, gut erholt und bereit
in den Tag zu starten. Nachdem sie einige Türen ausprobiert hatte, stand sie im
Ankleidezimmer vor dem Louis XIV-Frisiertisch und starrte auf wie sie annahm ihre beinahe
halbleere Seite. Wenn sie etwas Luft brauchte, warum hatte sie dann gepackt, als gebe es kein
zurück mehr. All das machte keinen Sinn. Brüsk marschierte sie durch den Raum und
sammelte einige Kleidungsstücke ein. Sie würde das überstehen. Sie musste das überstehen.
Eine Kanne des schwarzen Gebräus stand vor ihm auf einem Silbertablett bereitgestellt.
Neben der blütenweißen Meißnerporzellantasse lagen auf einem Teller verschiedene Biscotti,
Croissants und andere Frühstücksköstlichkeiten aus aller Herren Länder. Das Dienstmädchen
hatte, alles vorbereitet und war wieder an die Arbeit gegangen. Liam hatte bereits mehrere
Nachrichten von Freunden und Bekannten erhalten, die alle darauf aus waren zu sehen, wie es
seiner Frau ging. Gerüchte, das wusste er, verbreiteten sich schnell. Die Königin war also
zurückgekehrt. Sich die Morgenzeitung nehmend ließ er sich auf dem Ungetüm von Sofa,
eine Sitzlandschaft in puderigem grau, nieder. Seine feinen handgenähten italienischen
Schuhe klackerten licht über das komplizierte Muster des fast schwarzen Marmorfußbodens.
Der düstere Raum passte an diesem Morgen zu seiner Stimmung. Weder die allmorgendlichen
Börsendaten noch die Katastrophenberichte aus Dafur konnten seine Aufmerksamkeit halten.
Unruhig stand er, die Zeitung gegen sei flauschiges Sofakissen werfend auf, umrundete die
unbequeme Designersitzgelegenheit und marschierte mit langen gleichmäßigen Schritten vor
der Fensterfront auf und ab. Er ignorierte den Regen, der sanft gegen die Scheiben der
Terrassentüren prasselte. Von außen konnte man nur eine große dunkle Silhouette sehen, die
sich in unregelmäßigen Abständen durch die mit Gel gebändigten kurzen Haare fuhr. Es war
für ihn eigentlich ein ganz gewöhnlicher Morgen. Frisch rasiert, in mitternachtsschwarzen
Anzughosen, reinweißem Hemd, Krawatte und Weste, stand er nun vor seinem monströsen
Kamin. Nachdenklich, keine Mine verziehend blickte er in die Flammen. Sie hatten schon
immer eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er hörte nicht, wie seine Ehefrau durch die
Salontüren kam. Etwas unsicher stand sie an der Tür nicht wissend, was sie sagen, was sie tun
sollte. Vorsichtig trat sie in den düsteren Raum hinein.
„Groß, dunkel und vor allem grüblerisch“, scherzte sie. Sein Gesichtsausdruck war
unleserlich, die perfekte Maske aus Höflichkeit und Manieren.
„Frühstück steht auf dem Tisch, wie wäre es wenn du mir Gesellschaft leistest“, mit einer
affektiert galanten Handbewegung bedeutete er ihr zu folgen. Sie wusste noch immer nicht,
wie sie ein Gespräch initiieren sollte. Diese neue Kameraderie, wenn auch aufgesetzt,
hinterließ einen faden Beigeschmack und sie meistens sprachlos. Beide schwiegen sie. Er
trank von seinem Kaffee. Sie knabberte, ohne rechten Appetit an einem französischem
Croissant.
„Was ist warum starrst du mich so an?“, fragte sie befangen und brach die schwere Stille, die
sich wie eine Decke über sie gelegt hatte und drohte beide zu ersticken.
„Es ist nichts. Wirklich. Ich glaube ich sehe dich heute zum ersten Mal seit Jahren etwas
essen, dass nicht vorher abgewogen und gemessen wurde“, ein lächeln umspielte seine
Lippen, dass jedoch seine Augen nicht ganz erreichte.
„Wir frühstücken also normalerweise nicht zusammen“, es war nicht wirklich eine Frage. Er
antwortete nicht.
„Wir haben eine Einladung zum Abendessen bei einer deiner Freundinnen bekommen.
Vielleicht hilft es, wenn du dich in deine normale Umgebung einfügst“, schweifte er ab.
„Bitte erzähl mir nicht ich bin eine von den Ehefrauen, die Partys, Brunches und andere Dinge
planen, Tage damit zubringen einkaufen zu gehen und Geld zum Fenster hinauszuwerfen, nur
damit sie nicht vor Langeweile in ihren eigenen vier Wänden sterben“, antwortete sie beinahe
flehentlich.
Mit einem amüsierten Grinsen starrte Liam seine Frau für einen Augenblick musternd an. Das
war genau das Leben, das sie geführt hatte, er hatte nur nie gesehen mit wie viel Verachtung
sie die Maske der perfekten Lady jeden Tag aufsetzte und ihre Rolle an seiner Seite spielte.
„Was würdest du tun wenn ich dir sage, das genau das dein Leben war“, jeder Spur von
scherzender Leichtigkeit war aus seiner Stimme verschwunden, er bewegte sich in
unbekanntem Fahrwasser und musste gestehen, dieses neue rebellische Seite an seiner Frau
gefiel ihm.
„Ich würde dir antworten, dass ich von jetzt an mein Leben gerne leben würde und nicht in
teuren Boutiquen dahinvegetieren, um der Realität zu entfliehen.“
„Du hast einen guten Unisabschluss, theoretisch kannst du machen was du möchtest“, Stolz
war in seine Stimme gekrochen. Zwar hatte er nie wirklich Probleme mit den täglichen
Einkaufstouren durch Manhattan oder irgendwelchen sozialen Verpflichtungen gehabt, aber
Sophia hatte mehr Potenzial als die brave Hausfrau am, die ihren Ehemann mit einem Glas
Martini zu Hause erwartete.
„Ich würde dir antworten, dass mein Leben mit mehr füllen möchte als Klamotten und
Kalorientabellen“, fügte sie leise hinzu.
„Wenn ich dir dabei helfen kann, lass es mich wissen“, damit war das Thema vorerst
abgehakt.
„Talent und Potenzial sind wankelmütig. Du bist eine erwachsene Frau, die Entscheidungen,
die du jetzt triffst, verändern dich, deine Laufbahn. Und diese Veränderung kann nur mit sehr
viel Arbeit und Mühe wieder korrigiert werden und du wirst nie wieder dieselbe sein, die du
warst. Niemand wacht mehr über dich. Es sind deine Entscheidungen und nur deine.“ Ihre
Augen waren in die Ferne gerückt, erschienen leblos, weit weg. Sie hatte diesen Rat bereits
einmal gehört. Sophia wusste nicht wer ihn ihre gegeben hatte, doch die Worte hatten sich in
ihr Gedächtnis gebrannt. Erstaunt stellte sie fest, dass sie einer Erinnerung gelauscht hatte.
Ihrer Erinnerung.
„Ist alles in Ordnung?“ Liams besorgte Frage durchbrach die Nebelschleier und brachte sie in
die Gegenwart zurück. Ihr Kopfnicken konnte den zweifelhaften Ausdruck nicht von seinem
Gesicht wischen. Erst jetzt bemerkte sie die dunklen Augenringe, die Schwerfälligkeit seiner
Bewegungen. Trotz der maßgeschneiderten Designerkleidung und dem glatt rasierten Gesicht
machte sah man ihm die außergewöhnliche Belastung der letzten Tage an.
„Ich glaube ich habe mich gerade an etwas erinnert“, erklärte sie leise, ihre Augen noch
immer unfokussiert. Die Benommenheit langsam abschüttelnd, lächelte sie zaghaft und fragte:
„Für wann wurden wir eingeladen?“
Noch am selben Abend würde sie ein zweites Debüt in eine Gesellschaft machen, an deren
Regeln sie sich nicht mehr zu halten gedachte, deren Regeln sie nicht mehr kannte. Mehr
widerwillig hatte Liam sich entschuldigt, er müsse noch einige wichtige geschäftliche Dinge
erledigen und sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen. Sophia nickte verständnisvoll und
lächelte ein halbes Lächeln.
Langsam machte sie sich auf den Weg durch die Wohnung, machte sich mir ihrer Umgebung
wieder vertraut. An den Wänden hingen keine Fotos, nur originale Kunstwerke, nichts drückte
Wärme und Geborgenheit aus. Es war eine Fassade, die Zurschaustellung von Reichtum oder
einer perfekten Beziehung. Sie endete ihre Tour in der Bibliothek. Zwischen den alten leicht
modrig riechenden Lederbänden fühlte sich zum ersten Mal seit sie in diesem Albtraum
aufgewacht war sicher. Durch die Regale streifend, liebkoste sie fast zärtlich die alten
Buchrücken bis ihr Blick an einer Ausgabe eines Gedichtbandes von Elizabeth Barrett
Browning mit einem komischen Gefühl von Déjà-vue hängen blieb. Sophie ließ sich in dem
schweren Sessel nieder in dem die Nacht zuvor ihr Ehemann dem Vollrausch nahe
eingeschlafen war.
Es war am späten Nachmittag als Liam sich von seinen Geschäften losreisen konnte und aus
seinem Arbeitszimmer wieder auftauchte. Er hatte wie immer die Zeit vergessen, doch
normalerweise würde ihn seine Frau an das Abendessen, den Theaterbesuch oder die Gala
erinnern. Doch seine Frau war gerade nicht sie selbst, musste er sich immer wieder in
Erinnerung rufen.
Einen Moment lang zögernd stand er im Türrahmen und betrachtete die Figur, die friedlich im
Sessel zusammengerollt schlief. Stocksteif und still stand er wie in Trance, sich der
Erscheinung vor ihm bewusst werdend. Zu lange hatte er sie nicht mehr so in Harmonie mit
sich selbst gesehen. Zu lange hatte sie jeden Tag eine Maske aufgesetzt, selbst für ihn. Sich
langsam in den Raum vortastend, bemerkte er, ihr Lieblingsbuch lag aufgeschlagen auf dem
weichen Teppich. Den gequälten Seufzer, der seinen Lippen entfloh, konnte er nicht
kontrollieren. Er kniete sich neben ihre schlafende Form, auf Augenhöhe mit ihrem Gesicht,
und stich eine Locke ihres haselnussbrauen Haares aus der Stirn.
„Verzeih mir, ich hatte es vergessen“, flüsterte er leise. Nur Sekunden später murmelte Sophia
leise. Ihre dunkelgrünen schlaftrunkenen Augen öffneten sich.
„Ich wollte dich nicht wecken. Vielleicht sollte ich Blair absagen“, er lächelte wieder.
„Blair.“ Liam hörte die Frage hinter der einen Silbe, und eigentlich hätte er dieses Thema
gerne umgangen, antwortete aber kurz: „Sie ist deine beste und vielleicht älteste Freundin.“
Ihr Mund formte ein kleines o des Erstaunens.
„Es ist vielleicht noch zur früh für eine Party“, sagte er beiläufig. Doch Sophia hatte sich
bereits aufgerichtet und blickte ins Gesicht ihres Gatten, dessen Miene wieder zur
undurchdringlichen brütenden Maske geworden war. Unbewusst legte sie die Hand auf seine
Schulter, riss ihn aus seinem Grübeln und antwortete: „Du hast bereits zugesagt, außerdem
wäre es falsch von mir auf meiner eigenen Party nicht zu erscheinen. Es wird auch langsam
Zeit, dass wir uns fertig machen.“ Trotz Gedächtnisverlusts konnte Sophia nicht aus ihrer
Haut, musste Liam mit Widerstreben feststellen. Er hatte während der letzten Monate keinen
besonders engen Kontakt zu Sophias Freunden gehalten, nicht nachdem sie in einer Mantel
und Degenaktion aus seinem Leben verschwunden war.
Nach eingehender Musterung ihres recht mageren Kleiderschrankes – Liam hatte
vorgeschlagen sie zum einkaufen zu begleiten – hatte sie sich für ein schlichtes schwarzes
bodenlanges Seidenkleid und ein leichtes Abendmakeup entschieden. Einmal mehr fand sie
sich in der weichen Lederpolsterung des Wagens und starrte auf ihr Spiegelbild in der
Scheibe. Zaghaft beinahe vorsichtig nahm Liam ihre zierliche Hand in seine.
„Waren wir glücklich?“ Sie hatte dir Frage nicht stellen wollen. Doch mit ihrer Unsicherheit
über die eigene Situation, über das sie erwartete und was von ihr erwartet wurde, brauchte sie
die Gewissheit, jemanden an ihrer Seite zu wissen. Liam antwortete nicht.
„Ich denke wir haben irgendwann der Meinung anderer mehr Wert beizumessen als unserer
eigenen. Wir waren glücklich, bis die Frage nach dem sozialen Umfeld wichtiger wurde als
unsere Beziehung“, lieferte er ihr die ehrliche Antwort.
„Haben wir uns gestritten? Ich meine, es muss doch einen Grund gegeben haben warum ich
einen Ozean zwischen uns gebracht habe.“ Der Grund war er, dachte Liam. Doch die einzige
Gefühlsregung die sich in seiner Miene abzeichnete, war ein kurzes Aufflackern von Reue, so
kurz, dass sie glaubte es sei nur ihre Einbildung gewesen.
„Wir haben uns nie gestritten. Wir haben im letzten Jahr vielleicht nicht die Musterehe
geführt, die wir unseren Freunden vorspielten, aber ...“, er brach ab, „wir sind da.“
Kaum hatten sie die geheiligten Hallen des Palace betreten, erhob sich ein lautes Murmeln.
Hinter vorgehaltener Hand wurde getuschelt, niemand machte sich die Mühe seine Neugierde
zu verbergen. Die Upper East Side hatte ihr Traumpaar wieder.
„Wir haben uns solche Sorgen gemacht, als wir von dem Unfall erfahren haben“, zu der
gekünstelt wirkenden Fröhlichkeit gehörte eine schöne Blondine, Blair, deren wallende
Mähne nur durch ein blassrosa Haarband im Zaum gehalten wurde. Sophia wurde von allen
Seiten umarmt, jemand drückte ihr ein Glas Dom Pérignon in die Hand, beglückwünschte sie
zu einer schnellen Genesung und stieß auf die baldige Rückkehr aller ihrer Erinnerungen an.
Man lächelte, sie lächelte zurück. Man behandelte sie höflich, sie war eine von ihnen, aber nie
fühlte sich einsamer als in der Menschenmenge, die sich als ihre Freunde bezeichnete. Liam
stand abseits des Trubels und beobachtete mit einem Gefühl von Skepsis und Besorgnis
vielleicht auch ein bisschen Reue, wie sich die Meute auf seine Frau stürzte.
„Wie es aussieht hast du die Liebe deines Lebens wieder“, höhnte Blair und schlag ihren
rechten Arm um seinen Hals, in der anderen balancierte sie eine Champagnerflöte. Während
die Blondine einen Schluck nahm, lächelte sie süffisant in die Runde.
„Was willst du?“, wies er ihre Geste der Vertrautheit brüsk zurück und entwand sich aus
ihrem Griff.
„Und hier dachte ich klarer könnte ich nicht sein“, wieder stahl sich ihre Hand in sein
Jaquette.
„Und ich dachte ich hätte mich das letzte Mal klar ausgedrückt. Entschuldige mich. Ich würde
gerne mit meiner Frau tanzen“, kommentierte er barsch und ließ sie stehen. Hastigen Schrittes
durchmaß er den Raum, um möglichst schnell viel Distanz zwischen sich selbst und den
offensichtlichen Anzüglichkeiten der besten Freundin seiner Ehefrau zu bringen. Liam wusste
er hatte einen Fehler begangen, er brauchte frische Luft, einen Moment sich zu sammeln.
Unterdessen war Blair wieder in die Rolle der charmanten Gastgeberin gar besorgten
Freundin geschlüpft und stand nun Arm in Arm mit Sophie und trällerte über den neusten
Klatsch und Tratsch.
„Liam war untröstlich, am Boden zerstört wirklich, als du plötzlich aus heiterem Himmel
verschwunden bist. Wir haben alle unser möglichstes getan, du verstehst“, Sophia registrierte
diesen Tonfall, er machte sie schaudern. Sie war den gesamten Abend keinen Schritt näher an
die Lösung ihres Problems gekommen bis zu diesem Augenblick. Sophie starrte die blonde
Schönheit an ihrem Arm an, sah das hämische Lachen und das kurze Aufflackern von etwas
Dunklem in ihren Augen.
„Natürlich, du bist meine beste Freundin. Ich wusste du würdest dich in meiner Abwesenheit
gut um die Bedürfnisse meines Ehemannes kümmern. Entschuldige mich“, es lag genau das
richtige Maß an Verachtung in ihrer Stimme als sie sich von den Fängen der Meute auf der
Suche nach Liam loseiste. Sie fand ihn auf der Dachterrasse. Er starrte hinunter auf die
Lichter der Stadt. Er konnte nicht sprechen. Er konnte nichts tun außer warten. Warten auf
den Moment in dem er sie noch einmal verlieren würde. Warten auf die Absolution.
„Ich erinnere mich“, und in diesem Augenblick bewahrheitete sich das alte Sprichwort. Die
Erinnerung war wie die Seele, die Essenz dessen was man gesehen, gelebt und gelitten hatte.
Sie wob bestimmte Muster über unser Leben, testete Erfahrungen, erzwang Reaktionen und
belebte die Sinne. Die Erinnerung ließ uns wachsen. Ohne Erinnerungen wären wir ohne
Identität. Doch manchmal scheint das Vergessen leichter zu ertragen, denn nichts verfestigt
eine Erinnerung, einen bloßen Gedanken, mehr, als der Wunsch zu vergessen.

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