Kurzgeschichte - Phantomhafte Schatten


 
„Der erste Schnitt war der Tiefste“, brach er die Stille des kahlen, weißen
Raumes. Keine Reaktion! Bewegungslos stand sie am Fenster. Unbewegt starrte sie
hinaus, die Hand im zarten Stoff des puderfarbenen Vorhangs zur Faust geballt. Der
Kopf stütze sich schwer am kühlen Fensterglas mit leicht gebeugten Knien hielt sie
sich mühsam aufrecht, als drücke sie die Last des eigenen Körpers nach unten.
„Mit etwas Ruhe wird alles wieder in Ordnung kommen“, versuchte er es
weiter, optimistisch, hoffnungsvoll. Immer noch Schweigen. Draußen kämpfte die
Sonne gerade in flammendem Orange, zeichnete heiße rote Striemen an den
Sommerabendhimmel, doch näher und näher rückten die wolkigen Amethystschatten
der Nacht und würden schließlich ihr Territorium schlucken. Ihr Kampf war bereits
verloren. Von Anfang an verdammt unterzugehen. Sie jedoch tat es kämpfend.
„Willst du mir vielleicht davon erzählen?“ Vorsichtig, tastend klang die Frage
selbst in seinen Ohren. Er ließ ihr eine Möglichkeit, einen Ausweg offen. Weich und
warm hallte halte die dunkle Stimme durch das Zimmer, doch noch verweigerte sie
ihre Antwort. Orange und Rot waren einem schwachen, kränklich blassen Rosa und
das Licht der Finsternis gewichen. Drinnen schluckten lange Schatten die zierliche
Form der kleinen Blonden. Sie stand und starrte. Den Rücken zum Raum gewandt,
ignorierte sie den einst sicheren Hafen ihrer Kindheit.
„Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest“, die Stimme verlor ihre
Wärme, erhob sich fast wütend wurde eindringlich fordernd. Endlich gaben ihre Knie
nach. Ungraziös ließ sie sich auf den dicken flauschigen Teppichboden sinken. Die
angezogenen Knie stützen ihren Kopf, den Hals reckend fiel ihr Blick auf ihr
Gegenüber. Für ihn war es eine Geste, ein Hoffnungsschimmer gleichwohl sich
Schweigen weiter ausbreitete. Sie saß und schwieg.
„Willst du mir nicht sagen, was los ist?“, drang er noch einmal auf eine verbale
Antwort. Er meinte es als Aufforderung, beinahe barsch. Sie jedoch wusste,
irgendwann würde er des Fragens müde werden. Irgendwann würde sie alleine sein
in ihrer Dunkelheit in dem kahlen weißen Zimmer, dass einmal ihr Kinderzimmer war.
Warmes Entgegenkommen war nicht mehr zu spüren, allein die bittere Furcht rang
durch die sorgsam gewählten Worte. Er hatte sie gefunden, jeden einzelnen
Striemen gesehen. Er hatte sie gefragt, gebeten, bedrängt und angefleht, doch jedes
Mal traf er auf eine Mauer des Schweigens, sah das leere Starren aus fahlen
jadegrünen Augen, die nicht einmal mehr den Anschein von Leben erwecken wollten.
„Sag mir, was ich tun kann“, ein flehentlich jammervoller Ton kroch in seine
Stimme. Noch wollte er seine Niederlage nicht eingestehen. Hatte er sich nicht
geschworen, er würde sie wieder zurückbringen, die Stille brechen. Er musste es
verstehen, musste es hören um ihretwillen – um seinetwillen. Der kleine am Boden
kauernde menschliche Ball hatte resigniert, davon war er überzeugt, doch für ihn
musste es nicht bedeuten, dass er sie abschreiben könnte. Er war ihr Ritter in nicht
mehr ganz weißer Rüstung. Er war bei ihr, bereit für sie zu kämpfen. Der
Federhandschuh war geworfen, sein Gegner jedoch erwies sich als schattenhaftes
Phantom. Er hatte sie jeden Tag besucht, frische Blumen mitgebracht, ihr von den
kleinen und großen Dingen in seinem Leben bereichtet – von Prüfungen und
Lehrern, von Freunden und Bekannten, Treffen in schicken Cafés. Als es Zeit war,
sie nach Hause zu bringen, war er an ihrer Seite. Vielleicht spürte sie es, er konnte
nur hoffen.
„Ich...“, er setzte erneut an, stockte, seine Strategie scheinbar überdenkend,
hatte er mit drei großen Schritten den Raum durchquert. Langsam, sie nicht zu
erschrecken, setzte er sich Schulter an Schulter unter das Fenster. Diesmal war sie
nicht zusammengezuckt. Selbst als er ihr vorsichtig den Arm um die Schulter legte,
wich sie nicht aus. So spannte das Schweigen eine Brücke zuwischen ihnen. Worte
waren nicht mehr nötig, Worte konnten es nicht fassbar machen. Vor langer Zeit
hatte sie versucht es zu erklären, ihren Freunden, ihrer Familie. Irgendwann hatte sie
es als nutzlos aufgegeben, sich in ihre eigene Welt zurückgezogen, wurde dünner
und dünner, distanziert und kalt bis zu dem Punkt, an dem es kein zurück mehr gab,
sie brach und kroch schreiend wieder hervor.
„Du hast es überstanden“, sachte zog er sie etwas näher in seine Arme, „noch
magst du es vielleicht noch nicht so sehen, aber die Wahrheit ist, du hast es überlebt.
Du bist eine Überlebende.“ Dabei lächelte er, sein typisches halbes Lächeln. Schon
lange waren sie kein Liebespaar mehr – vielleicht waren sie es nie gewesen. Keiner
der beiden war von romantischer Natur, sie brauchte weder Blumen noch
Schokolade von ihm, keine Mondscheinspaziergänge oder Abendessen bei
Kerzenlicht. Er hatte es gesehen. Heute war er einfach nur das Netz, dass sie
auffing, dass sie nach Hause brachte, die in den Arm nahm, sie ermutigte. Vorsichtig
strich er über den Verband an ihrem Arm. Seine Fingerkuppen berührten kaum den
reinen weißen Baumwollstoff der Mullbinde.
„Ich habe es nicht früher gesehen“, seine Stimme brach. „Ich weiß, dass du
stark genug bist weiter zu machen und irgendwann kannst du es vielleicht sogar über
dich bringen ihnen zu verzeihen.“ Es wäre das Richtige gewesen. Sie hätte Größe
besessen demütig zu Vergeben. Tatsächlich aber wollte sie nicht länger
entschuldigen, wollte nicht länger hinnehmen. Doch wer konnte die Tatsachen als
blanke Fakten hinnehmen. Wahrheit war dehnbar geworden, grenzte an eine
glitzernde Illusion von Wirklichkeit, die nach belieben geformt werden konnte.
Vielleicht hatte sie sich einmal zu oft selbst belogen, eine Maske zu viel aufgesetzt,
einmal zu oft das Kostüm gewechselt. Dennoch hatte er sie nicht strafend
angesehen, es lagen weder Scham noch Schade, weder Hohn noch Häme in seinem
Blick. Er urteilte nicht. Er hatte den Abgrund gesehen. Er war Teil von ihr.
„Auch wenn du dich danach sehnst, dass sie wenigstens den Versuch
unternehmen würden, es zu verstehen, sie können es nicht“, behutsam sie wie ein
kleines Kind wiegend, versuchte er ihr die Anspannung zu nehmen. Sie hatte keine
Tränen mehr übrig, nicht einmal als die Erinnerung und mit ihr ein stechend greller
Schmerz in der Brust einsetzte und ihr den Atem nahm. Mit jedem Versuch
Sauerstoff in ihre Lunge zu pressen schien sich das beißende Ziehen zu
intensivieren. Ihr Atem in schnellen, kurz gepressten Zügen.
„Atme, ganz ruhig“, leise liebkosend strich der Befehl über ihre kauernde
Gestalt. Ja, Ruhe, sie musste sich aufs Atmen konzentrieren und der Schmerz würde
nachlassen. Sie würde nicht den leichten Weg nehmen, ihren Schwur nicht brechen,
sondern es ertragen, durchstehen. Sie würde nicht aufstehen. Die Gewissheit, dass
scharfe, spitze Gegenstände außer Reichweite waren, schaffte die einzige
Absicherung für ihren Körper. Diesmal blieb er möglicherweise verschont, physisch
intakt und unversehrt. Atmen. Stoßweise, ein und aus. Bis sie sich und ihre
Gedanken wieder unter Kontrolle hatte, würde sie ihre Erinnerungen einfach aus
ihrem Bewusstsein verbannen, in der Hoffnung irgendwann den Tross an
emotionalem Ballast aus der Distanz zu sehen. Ihre Atemzüge wurden
gleichmäßiger, stiller, ihre Augen schlossen sich und der Moment war vorbei.
Sie setzte sich aufrecht, die Augen weit offen. Der Raum war leer.

Kommentare

Beliebte Posts