Litertaturgeschichtsschreibung - Ein Problemfall

Was ist Literaturgeschichte?

Es beginnt schon bei dem Problem "Literatur". Wie definiert man Literatur? Ist es alles Geschriebene? Fiktion? Belletristik? Welche Merkmale muss das Werk erfüllen damit es als Literatur gilt?
Literatur hat immer etwas mit subjektiver aber auch gesellschaftlicher Wertung zu tun (Terry Eagleton).
Etymologisch leitet sich der Begriff aus dem Lateinsichen von Litterae (=Buchstabe) ab, also alles Geschriebene? Das würde allerdings mündlich überlieferte Literatur, vollkommen ausgrenzen, zum Beispiel die Illias. Bevor das griechische Epos in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts v.Chr. niedergeschrieben wurde, gab es über Jahrhunderte hinweg nur mündliche Überlieferungen der Sage. In die selbe Kategorie würden Volkslieder oder Troubadourlyrik, sogar der Höfische Roman fallen. Natürlich wären auch Telefonbücher der Deutschen Telekom große Literatur,  z.B. André Breton in PSTT wird der Telefonbucheintrag zur Lyrik oder Peter Handkes Aufstellung für ein Fußballspiel, hier stehen die Namen nicht für die einzelenen Personen sondern Verweien auf die Zeichen, die als Fibonacci-Reihe angeordnet sind. Charles Baudelaire hat seine Gedichte in Les Fleurs du Mal von der 1. in die 2. Auflage anders angeordnet und mit der Kontextualisierung den Sinnzusammenhang bzw. die Bedeutung des Inhalts verändert. Die Belletrisik meint, wenn man Voltaires Dictionaire Philosophique konsultiert, Physik und Chemie. Erst im 18. Jahrundert wurde der Begriff Litartur im Französischen neu definiert. J'ai de la littérature bedeutete dann nicht mehr Ich habe Bildung, jetzt sagte man C'est de la littérature. Somit wurde die Literatur zu einem Studienobjekt.
Welche Merkmale zeichnet Literatur also aus? Naturlich gibt es blanke Äußerlichkeiten: der Paratext aud dem Buchdekel gibt eine erste Auskunft worum es sich bei dem Vorliegenden Werk handelt, Roman, Poesie. Er offeriert dem Leser eine erste Orientierungshilfe, determiniert den Erwartungshorizont und die ästhetische Einstellung zu dem Werk. Wer Roman ließt erwartet keinen Tatsachenbericht. Natülich gibt es auch Textimmanente Chrakteristika: z.B. bei der Lyrik fällt ein besonderer Sprachgebrauch ins Auge, der von der konventionellen Sprache abweicht. Allerdings sollte bemerkt werden, dass sprachliche Konventionen sich je nach Zeit, Ort, Person und Kontext ändern. In der Lyrik finden sich oft Verse und eine dichte Häufung von rhetorischen Figuren. Roman Jakobson nennt die Selbstreflexifität der Literatur als weiteres Merkmal. Natürlich muss der vorliegende Text immer im Vergleich zu einem Außen gesehen werden, d.h. innerhalb einer Literarischen Epoche mit Texten die vorher oder zur gleichen Zeit geschrieben wurden. Durch die Deautomatisierung der poetischen Tradition kommt es zur Festlegung einer neuen poetischen Tradtion, man setzt sich vom Alten und der Erwartungshaltung ab und entwickelt so etwas Neues.
Natürlich gilt die Fiktionaliät als wichtiges Merkmal der Literatur, v.a. für narrative Texte. Beim Theater geht es mehr um Entprgmatisierung. Auf der Bühne werden Personen und Dinge in einer fiktionalen Welt dargestellt, die ihrem alltäglichen pragmatischen Zweck beraubt sind. Nur weil Hamlet auf der Bühne stirbt bedeutet das nicht, dass der Schauspieler nicht wieder aufsteht um die Premiere mit seinen Kollegen zu feiern. Entpragmatisierung, Fiktionalität und Deautomatisierung sind allerdings nicht gattungsspezifisch.
Erst am Mitte der 19. Jahrhunderts hat die Literatur ihre Autonomie erkämpft. Zuvor hatte sie einen klar gesellschaflichen Auftrag z.B. Höfische Literatur bei Molière diente vornehmlich dem Lob des Hofes.

Literaturepochen und ihre Grenzen


Epochen sind nicht pysisch existent, sondern Konstrukte des Beobachtrs (Niklas Luhmann 1985). Oft werden markante Ereignisse herausgepickt um die Zeit in ein vorher und nacher zu unterscheiden. Doch welche Ereignisse in Zusammenhang gebracht werden ist oft Interpretationssache. Demnach sind Epochengrenzen fließend, keine Fixpunkte, die ein hypothetischer Beobachter von außen erforscht. Die Epoche existiert also nur in theoretischer und retrospektivischer Rekonstruktion und nur so wird sie plausibel, nachträglich, schängelt sich also ein roter Faden durch die Geschichte. Die Perspektive macht die Epoche zur Epoche, nur durch den Beobachter wird sie real begründ- und abgrenzbar. Man sucht nach Abläufen, Kausalitäten und Zusammenhängen.
Bereits 1983 hat Titzmann bemerkt, dass die Epoche als Segment aus einem Kontinuum der chronologischen Zeit nicht willkürlich eingegrenzt wird, sondern begründet werden muss, indem man gemeinsame Elemente einer Klasse (Merkmale) erforscht. Binnen einer Epoche weisen diese Merkmale eine relative Invarianz auf und werden zuammengruppiert. Für Jasinowski stand bereits 1937 fest, dass Epochen keine streng abgenzbaren Einheiten bilden, nicht hermetisch von anderen abgeriegelt werden können sondern idealtyprische Konstrukte darstellen, die nicht ausschließen, das andere Einordnungen möglich sind. Epochengrenzen sind nicht widerspruchsfrei, sondern typisiert offen für Interpretation.Es gibt sog. Übergangsphasen zwischen Epochen. Demnach ist Dante also nicht nur der Erbe Virgils und der Höhepunkt mittelalterlicher Literatur, er steht auch am Beginn der Renaissance Literatur. So kann Dante drei Epochen zugeschrieben werden, die sich logisch eigentlich ausschließen müssten.Victor Sklovskij (Russ. Formalist) bettete das in die Logik der Literarischen Evolution ein, Literatur heute steht immer in einem Verhältnis zu dem, was bereits da gewesen ist, neue Formen entstehen nicht um neue Inhalte auszudrücken, sondern um sich von anderen zu unterscheiden. Sie sind abgekoppelt von der eingentlichen Geschichtsschreibung, stehen aber immer vor dem Hintergrund anderer Kunstwerke. Literatur ist aber auch ein Produkt ihrer Zeit, und steht somit im Kontext der allgemeinen Geschichte, Literatur entsteht aus Literatur (Robert Jauß), Kunst aus Kunst und ist sowohl reaktionär als auch revolutionär.

Jauß Rezeptionsästhetik 

In seiner Antrittsvorlesung an der Universität Konstanz im jahr 1967 formulierte Jauß Sieben Thesen zur Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft.
Der Text ist ein Zeichengebilde, mehrfach strukturiert und hierarchisch organisiert. Niemand ließt einen Text unbefangen. Jeder Leser ist durch bestimmte Tradtionen und Sichtweisen, seinen eigenen Erwartungshorizont etc. prädeterminiert. Im Marxismus wird der Leser immer über die soziale Schicht und seine Stellung bzw. seinen materialistischen Erfolg gekennzeichntet, dadurch hat der Inhalt auch immer einen inneren Bezug zur Gesellschaft. Der Text erläutert das maxistische Geschichtsverständnis und der Leser erfährt so nur eine weitere Bestätigung des historischen Materialismus, die Literatur wird zum Beweis für die Geschichte des Klassenkampfes (historische Implikation)  Im Formalismus ist der Leser das Subjekt und soll textlichen Anweisungen folgen. Jeder Text muss analysiert und von jedem Leser nach literaturwissenschaftlichen Aspekten auseinander genommen werden. Das setzt natürlich Kenntnisse über literaturwissenschaftliche Methodik voraus und der Text selbst wird zur Gebrauchsanweisung (ästhetischen Implikationen).
Historische und ästhetische Impliaktionen werden nun aber immer verknüpft. Der Leser ist bei Jauß zunächst auch immer Kritiker, der Adressat in Jakobsons Kommunikationsmodel. Nur so kann Literatur überhaupt funkionieren. Der Leser is nicht nur Rezipient, er bekommt eine aktive Rolle zugeschrieben. Jeder Autor ist nämlich zuerst Leser, damit steht Literatur immer in einem Kontext und Literatur entsteht aus Literatur. Es gibt keine creatio ex nihilo bei Jauß. Konsequenterweise verfügt der Autor nicht über die Bedeutung seines eigenen Werkes, was aus dem Werk gelesen wird ist völlig Sache des Lesers. Wird ein Werk nicht gelesen ist es somit auch keine Literatur. Erst der Leser ist das geschichtsbildende Element in der Literatur. Heute haben wir eher das Problem mit der Frage was passiert wenn die Leser aussterben?
Jauß fordert eine Erneuerung der Literaturgeschichte, sie wird notwendig um Vorurteile des historischen Objetikvismus (im 19. Jhdt. jede Epoche steht gleich nahe zu Gott, und hat einen eigenen Wert an sich d.h. die Epoch steht als abgeschottetes Konstrukt da ohne die Einflüsse vorheriger Epochen mit einzubeziehen) abzubauen. Die Literaturgeschicht muss nun Zusammenhänge und Übergänge herausarbeiten, der Schlüssel dazu ist der Leser und dessen Rezeption des Werkes. Primär ist Literaturgeschichtsschreibung also die Erklärung der literarischen Erfahrungen der Jetzt-Zeit. Warum sieht Literatur heute so aus wie sie aussieht.
Literaturerfahrung wird auch durch vorherige Leseerlebnisse determiniert. Anders als bei dem Versuch einer psychologisierenden Rekonstruktion des Erwartunshorizontes, wo der Leser zum Typus wird, muss für jedes Werk aus dem Vorverständnis der Gattung und den bekannten Texten ein objektives Bezugssystem hergestellt werden. Literarische Evolution funktioniert über die ästhetische Distanz des Lesers zum Werk d.h. dem Werteurteil. Je größer die Distanz des Werkes zum Erwartungshorizont des Lesers ist desto neuer die Leseerfahrung (Deautomatisierung), was an der Reaktion des Publikums, Briefen und Korrespondenzen, Verkaufszahlen, Spielzeiten oder in weiterführender Literatur abzulesen ist.
Der Leser ist ein Epochenspezifisches Konstrukt und ergibt sich aus dem ERwartunshorizont, der Kenntnis des Lesers und stellt of einen gebildeten Idealtypus dar. Es gilt die Formel, je größer die ästhetische Distanz desto größer der Literarische Wert. Mit dem Versuch den Erwartungshorizont des Erstpublikums zu rekonstruieren, kann die historische Situation herausgearbeitet werden in der das Werk entstand. Im Vergleich heute und damals, muss festgehalten werden, dass das Werk nicht mehr das Selbe ist, da es sich nicht an der Überzeitlichkeit orientiert. (hermeneutische Differenz: Verstehenssituation heute vs. damals).
Als dann folgt die Einordung des Werkes in eine literarische Reihe z.B. Julie ou la nouvelle Héloise von Rousseau, bereits im Titel impliziert wird, dass es eine "ältere" mittelalterliche Version der Héloise gegeben haben muss. Les Laisons dangereuses (Laclos) wiederum nimmt Bezug auf Rousseau, die beiden Werke stehen also miteindander im Kontext. Literatur ist also nicht nur Spiegel der Gesellschaft sondern wirkt auch auf sie ein. Jauß stellt eine Literaturgeschichtliche Gliederung in synchronen Schritten vor, die nicht immer parallel zur Geschichtsentwicklung laufen. Für ihn ist 1857 so ein Schnittpunkt und entscheidendes Wandlungsdatum. Es gab in der französichen Literaturgeschichte zwei Literaturprozesse gegen Mme Bovary und Les Fleurs du Mal, die als Angriffe auf die öffenliche Moral gesehen wurden. Bei Mme Bovary, las der Staatsanwalt die Verherrlichung des Ehebruchs, und verstand die neue Erzählgattung nicht. Flaubert hat keinen Erzähler (internalisierende Fokalisierung Charles und Emma) d.h. es gibt keinen moralischen Kommentar von einem auktorialen Erzähler. Bei Bauelaire findet man eine ähnliche Problematik mit der Doppelartikulation des lyrischen Ichs. Auf ästhetischer Ebene bildet das Jahr 1857 ein Revolutionsjahr. Problematisch wird es allerdings im Theater, da ist nicht passiert, auf der Ebene der Institutionn allerdings lässt sich ein Zuwachs an neuen Theatern, Theater-Cafés, Experimentierbühnen feststellen, die die Schwerfälligkeit der Institution geändert haben.
Dennoch steht die Literaturgeschichte im Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichtsschreibung. Die Literatur hat somit eine geschellschaftsbildentde Funktion an der sich Werte- und Moralvorstellungen ablesen lassen. So strukturiert der Text die Wahrnehmung von Wirklichkeit und geht in die gesellschaftliche Praxis ein.

 Teil 1: Mittelalter und Renaissance


Zeit ist in der Literatur nich als allgemeine Bedingung gegeben sondern semantisiert und mit Bedeutungsmustern ausgestattet. So entstand in der Antike die Auffassung der Vier Zeitalter, die einander ablösen und zyklisch in der Neuzeit sich wiederholen. Die Heilsgeschichte grenzt sich von der weltlichen Geschichte ab, Fortschrittsgläubigkeit und das Verhältnis zur Antike beeinflussen ebenfalls die Wahrnehmung literarischer Zeit.
Mittelalter und Renaissance sind eng miteinander verbunden.Die Renaissance hingegen bringt sich bewusst in ein Verhältnis zur Antiker und sieht das M.A. als Verfallsstufe an. Die Renaissance machte das M.A. als Zwischenhphase erst möglich, sie bedingen einander Dialektisch. Haug formulierte "Die Zwerge auf den Schultern der Riesen". Im Zentrum des m.a. Geschichtsdenkens steht Christus, dessen Opfertod - ein fundamentaler Einschnitt, der eine neue Epoche begründete und die Erlösung aller Menschen herbeiführte. Von nun an ist kein Fortschritt mehr möglich, die neue Epoche ist bereits da. Der Blick rückwärts ist imer ante legem (vor dem NT) das heute (im Mittelalter) sub lege (unter dem Gesetz). Für die Menschen des Mittelalters ist Heilsgeschichte (AT-NT) Realgeschichte.  Da die Erlösungstat bereits geschehen ist, wartet man im Diesseits auf den Tod. (= immitatio Christi).

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